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Von der Kindergrundsicherung zur umfassenden Sozialstaatsreform

Der Koalitionsvertrag der Regierung Merz/Klingbeil hebt die Notwendigkeit einer grundlegenden Sozialstaatsreform hervor. Die Vielzahl an Sozialleistungen, unklare Zuständigkeiten und ein bürokratischer Dschungel erschweren Bürgerinnen und Bürgern wie Behörden den Überblick. Eine Modernisierung und Vereinfachung des Systems ist überfällig.

Torsten Matzak
Komplexität der sozialen Leistungen
Chancen für die Vereinfachung und Digitalisierung in der Sozialleistungsverwaltung

Über 150 Sozialleistungen – ein undurchschaubares System

Mehr als 150 verschiedene Sozialleistungen des Bundes existieren in Deutschland – viele davon überschneiden sich oder widersprechen sich sogar. Nicht nur Anspruchsberechtigte verlieren den Überblick. Auch Behörden und deren Mitarbeitende stoßen zunehmend an ihre Grenzen. Die Verständlichkeit von Bescheiden nimmt ab, der Verwaltungsaufwand steigt.

Kindergrundsicherung als Beispiel für Systemversagen

Die Diskussion um die Kindergrundsicherung in der vergangenen Legislaturperiode zeigt exemplarisch die Schwächen des Systems: Obwohl unterschiedliche Leistungen gebündelt werden sollten, blieben viele Schnittstellen bestehen. Im Ergebnis wären neue Probleme in der Anrechnung innerhalb von Familien entstanden – anstatt bestehende Hürden abzubauen.

Bürgergeld: Neue Ziele brauchen neue Spielräume

Mit dem Bürgergeld bietet sich nun die Chance, sozialpolitische Zielsetzungen neu zu definieren. Soll es Menschen zur Selbstbestimmung befähigen oder sie zur Eigenverantwortung motivieren? Je nach Ausrichtung müssen Behörden flexibel agieren können – mit mehr Ermessensspielräumen und einer klaren Zieldefinition durch den Gesetzgeber.

Ein Blick ins Ausland – etwa auf den Human Development Fund in Saudi-Arabien – zeigt: Individualisierte Lösungen stärken die Integration und führen zu besseren Ergebnissen.

110 Behörden für Sozialleistungen – ein System am Limit

Die Behördenvielfalt ist ein zentraler Treiber der Bürokratisierung. Für nahezu jede Leistung existiert eine eigene zuständige Stelle. Dadurch entstehen lange Bearbeitungszeiten, hohe Verwaltungskosten und für Hilfesuchende ein undurchdringlicher Behördendschungel.

Obwohl das Gesetz eine Annahmeverpflichtung für Anträge auch bei fachfremden Behörden vorsieht, wird diese Möglichkeit kaum genutzt. Statt Hilfe zu bieten, werden Bürger oft allein gelassen – besonders jene, die Unterstützung am dringendsten benötigen.

Vorbilder im Ausland: Australien und Großbritannien

Internationale Beispiele zeigen, wie ein ressortübergreifendes Sozialleistungssystem funktionieren kann. Australien verwaltet Sozialleistungen zentral über eine Behörde, berät Anspruchsberechtigte und sorgt so für zielgerichtete, effektive Hilfe. Auch das britische Modell der Universal Credits – wenn auch auf sechs Leistungen begrenzt – senkt Bürokratiekosten und reduziert Betrugsrisiken deutlich.

Digitalisierung und Datenmanagement als Schlüssel

Ein zentrales Element der Sozialstaatsmodernisierung ist das behördenübergreifende Datenmanagement. Obwohl das „Once-Only“-Prinzip in der Politik propagiert wird, erheben Behörden vielfach dieselben Daten mehrfach – zum Beispiel zum Einkommen oder zu Wohnkosten.

Dabei könnten über das Bundeszentralamt für Steuern bereits validierte Einkommensdaten automatisiert abgefragt werden. So ließen sich bestimmte Leistungen automatisiert auszahlen – effizient, schnell und transparent. Datenschutz wird hierbei oft als Hindernis vorgeschoben, obwohl technologische Lösungen längst existieren.

Fazit: Weniger Bürokratie, mehr Zielgenauigkeit

Die Sozialstaatsreform ist ein Kraftakt – aber sie ist möglich und notwendig. Die Koalition muss den Mut aufbringen, bestehende Leistungen kritisch zu hinterfragen und zu entschlacken. Dabei bedeutet Reform nicht zwangsläufig Kürzung: Durch Bürokratieabbau, digitale Prozesse und klare gesetzliche Ziele lassen sich Effizienzgewinne erzielen, die auch Betrugsanreize verringern.

Ein internationaler Blick lohnt sich – für einen zukunftsfähigen, digitalen und fairen Sozialstaat.